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Eine neue Lilith: über das Loslassen

Im Nachfolgenden beziehe ich mich auf einen Artikel von Hans-Joachim Maaz: "Die Nachtseite des Weiblichen - der Lilith-Komplex". (1)

Lilith (hebräisch: "Die Nächtliche") ist Adams erste Frau, seine von Gott geschaffene gleichwertige Partnerin. Der Überlieferung nach bevorzugt Adam jedoch eine andere Gespielin: Eva, die sich ihm unterwirft (wozu Lilith nicht bereit war) und mit der er fortan patriarchal, aber auch außerhalb des Paradieses lebt. Lilith steht heute als Symbol für Emanzipation und weibliche Autonomie, für Selbstbestimmung und lustvoll erlebte Sexualität - und für "die dunklen Seiten der Weiblichkeit".

Liliths dunklen Seite - Kinderfeindlichkeit?!

Liliths dunklen Seite - so lautet Maaz' These - ist jener heute tabuisierter Teil der weiblichen Psyche, der in allen Frauen weiterlebt. Er verortet das Tabu in einer (unausgesprochenen) Kinderfeindlichkeit und Ablehnung von Mutterschaft und identifiziert "die damit verbundene, dauerhaft nachwirkende, frühe Störung der Mutter-Kind-Beziehung als Grundlage unserer zunehmend neurotischen Gesellschaft." (2)

Warum aber sollte Lilith pauschal gegen Kinder und Mutterschaft sein? In der Lilith-Legende fordert sie Gleichberechtigung mit ihrem Partner Adam - nicht mehr und nicht weniger. Lediglich wenn diese Gleichberechtigung nicht mehr gegeben ist, hätte sie Grund, sich gegen das zu wenden, was sie als Instrument ihrer Unterdrückung ausmacht: Kinder und Mutterschaft.

Evas dunklen Seite: der entrechtete Körper

Kinder und Mutterschaft sind per se keine Instrumente der Unterdrückung. Aber sie werden dazu, wenn der Frau die Wahlfreiheit abgesprochen wird. Von welchem Tabu sprechen wir also? Vielleicht ist es der berühmte blinde Fleck unserer eigenen Weltsicht: nach wie vor haben Frauen in den meisten Ländern kein freies Verfügungsrecht über ihren Körper - was auch das Recht zur Abtreibung miteinschließt. (3)

So ist es wohl eher die entrechtete, unterworfene Eva (4), die diese Wahl ohnehin nie hatte, die jetzt "mörderische Wut, abgrundtiefe[n] Hass, schneidende[n] Schmerz, sich erbrechende[n] Ekel und herzzerreißende Trauer" (5) verspürt: nämlich darüber, dass ihr das Recht über ihren eigenen Körper genommen wurde - und sie aus machtpolitischen Gründen über die Jahrhunderte zur Gebärmaschine degradiert wurde. (6)

Mutterschaft und freier Wille

...Ich habe also die Wahl, die Voll-Macht. Ich kann in Kontakt mit dem Kind gehen, mit mir selbst, und wahrnehmen, welche Entscheidung für mich innere Richtigkeit hat. Dann kann ich meiner Entscheidung Raum verschaffen: bewusst wachsen lassen oder bewusst töten. Wenn ich dazu den Mut nicht mehr habe, kann ich einem Kind, das ich gebäre, auch nicht mehr vermitteln, was eine wahre Mutter ist: nämlich eine, die einen sicheren Rahmen für Licht und Dunkel des Lebens gibt. Der sich das Kind für die hilfloseste Zeit seines Lebens vorübergehend anvertrauen kann, weil sie "Alles" umfasst. Die Kinder könnten dann etwas Grundlegendes von uns Frauen für ihr Leben lernen, nämlich Hingabe an alles, was ist. Von einer ohnmächtigen Mutter, einer Opfer-Mutter kann eine Kind diese grundlegende spirituelle Haltung nicht lernen, auch wenn sie selbst versucht, hingebungsvoll wie Maria zu sein. Maria ist zu süßlich, um dem Kind einen sicheren Rahmen zu geben. Der ist an einen fernen, oft als autoritär phantasierten Gottvater delegiert... (7)

Maaz beschreibt den Lilithkomplex als ein Defizit an Mütterlichkeit. Dem stimme ich zu - allerdings unter anderen Vorzeichen: Eine Mutter-wider-Willen wird nie das sein können, was wir uns unter dem Ideal des Archetypen "Mutter" vorstellen. Erst ihr klares, selbst bestimmtes "Ja" zum Kind macht sie dazu.

Doch zum klaren, bekennenden "Ja" ist die Möglichkeit des "Neins" unabdingbar. Maaz bezeichnet das - ganz im Einklang mit der vorherrschenden Kultur - als "kinderfeindlicher Aspekt". Aber dieses "Nein" zu Kind und Schwangerschaft ist nicht gegen das Kind an sich gerichtet: es ist einzig und allein die Ausübung des Rechtes auf Selbstbestimmtheit der Frau.

Unfähig zur Bindung - oder zum Loslassen?

Ein weiterer Ausdruck des "Mangels an Mütterlichkeit" ist laut Maaz eine frühe Trennung von Mutter und Kind durch Kinderkrippen etc. Was meiner Ansicht nach schwerer wiegt als ein bunter Reigen an Bezugspersonen (ein polyamournesisches (8) Netz also) ist die Unfähigkeit der Mutter-wider-Willen, ihr Kind tatsächlich loszulassen: denn sie hat dem ungewollten Kind ihre eigenständige Identität geopfert und ist durch Schwangerschaft und Entbindung nur faktisch zur "Mutter" geworden, ohne diese Rolle je bewusst gewählt zu haben.

Wer aber ist sie ohne das Kind? In die alte Rolle einer erwachsenen, selbstverantwortlichen Frau kann sie nicht zurück, denn ihr Leben wurde gewaltsam in Bahnen gedrängt, die sie so - hätte sie sich entscheiden dürfen - nie gewählt hätte.

Diese Identitätskrise der Mutter-wider-Willen lässt sich nur durch eines bannen: unbeirrbares Festhalten an ihrem Kind als Lebens- und Seinszweck und indem sie es nach Möglichkeit auf ewig in Abhängigkeit hält. All die besitzergreifenden, übergriffigen, fordernden, aussaugenden Mütter sind Evas - nicht Liliths.

Loslassen als inhärenter Aspekt von Mutterschaft

Ich glaube, das Loslassen ist ein inhärenter Aspekt von Mutterschaft. Lilith lässt ihr Kind in Liebe los, damit es (und auch sie selbst wieder) zu einer eigenständigen Person werden kann. Die ursprüngliche embryonale Verbundenheit von Mutter und Kind löst sich formal-materiell durch den Akt der Geburt, in den Monaten und Jahren danach folgen allmählich emotionale und psychische Eigenständigkeit.

Lilith ist nicht per se kinderfeindlich. Ihr Ja ist ein klares Ja zu Kind und Schwangerschaft. Und gerade weil sie sich trotzdem ihre eigenen Identität bewahrt hat, kann sie auch das worin wahre Mutterschaft letztendlich münden sollte: Loslassen.

Liebe ist die Kunst loslassen. Jemanden, etwas, so-sein zu lassen.
Weil wir selbst so-sein dürfen.

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