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Ich und Du. Über das Verhältnis von Empathie und Kunst.

Warum kann uns ein Kunstwerk berühren? Ich bin Künstlerin - natürlich interessiert mich diese Frage. Eine erste Spur ergibt sich für mich aus dem Phänomen der Empathie, der menschlichen Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen einzufühlen, zu "fühlen, was andere fühlen". Aber beschränkt sich Empathie darauf? Oder könnte Empathie vielleicht mehr sein, eine Art in beide Richtungen offener Kommunikationskanal?

1 Vorwort

"Auf ein System, für ein kleines Instrument schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen. Wollte ich mir vorstellen, ich hätte das Stück machen, empfangen können, ich weiß sicher, die übergroße Aufregung und Erschütterung hätte mich verrückt gemacht."(1)

James Rhodes zitiert die o. g. Passage in seinem Buch Der Klang der Wut. Und er zitiert sie an entscheidender Stelle: als er in einer Situation tiefster Verzweiflung(2) schließlich Hoffnung schöpft. Als er seinem persönlichen Silberstreif am Horizont begegnet, in Form von Bachs Chaconne.

Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk eine derartige Kraft entwickelt? Die Kraft, ein Menschenleben zu verändern, ihm Hoffnung in einer Situation zu schenken, die hoffnungs- und auswegloser kaum sein kann?

Und wie ist es möglich, dass ein Mensch, Johann Sebastian Bach, ein derartiges Kunstwerk schafft? Ein bescheiden lebender Künstler, der, als er starb, vergessen wurde, und dessen Werk man erst 80 Jahre später wiederentdeckte.(3)(4) Ein Titan, von dem Mozart sagt: "Bach ist der Vater, wir sind die Buben. Wer von uns was Rechtes kann, hat’s von ihm gelernt."(5)

Das sind interessante Fragen. Doch es wäre wohl ein vermessenes Ansinnen, dieses Geheimnis in seiner Gänze auf den nachfolgenden Seiten enthüllen zu wollen. Daher soll sich die vorliegende Arbeit lediglich mit einem Teilaspekt des Mysteriums beschäftigen: Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk einen Menschen berührt, tief bewegt, ja vielleicht sogar: heilt?

2 Die Hypothese

Warum kann uns also ein Kunstwerk berühren? Eine erste Spur ergibt sich aus dem Phänomen der Empathie, der menschlichen Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen einzufühlen. Das gängige Verständnis von Empathie ist, dass sie uns befähigt, zu "fühlen, was andere fühlen"(6). Aber beschränkt sich das Phänomen Empathie allein darauf? Wenn Empathie die Fähigkeit ist, die es einem Menschen erlaubt, einen anderen gewissermaßen zu belauschen, ähnlich einem Arzt, der mit Hilfe eines Instruments, beispielsweise eines Stethoskops, den Herzschlag des anderen belauscht, wäre es dann nicht auch möglich, dass dieser eine, der lauschende Mensch, dem anderen auf demselben Wege auch etwas mitteilt? Und wäre der belauschte Mensch an der Stelle, wo das empathische Stethoskop sein Sein berührt, nicht vielleicht auch: empfänglich? Ist unsere Fähigkeit zur Empathie vielleicht mehr als ein diagnostisches Instrumentarium, ist es möglicherweise ein Art Kanal der Interaktion zwischen Menschen, ein Kanal, eine Fähigkeit, deren Grad der Ausprägung von Mensch zu Mensch zwar variieren mag, die aber in jedem Fall Kommunikation ermöglicht?

Ob diese Hypothese haltbar ist, soll im Folgenden untersucht werden, und zwar unter Berücksichtigung verschiedener gängiger Auffassungen über Empathie. Diese Theorien über Empathie stehen, so die Hoffnung, der Möglichkeit, Empathie als Kommunikationskanal aufzufassen, ggf. nicht nur nicht entgegen, sondern enthalten vielleicht sogar Elemente, die diese Hypothese stützen.

Und wenn dem dann tatsächlich so ist, dass nämlich Empathie einen in beide Richtungen offenen Kommunikationskanal darstellt, dann würde das möglicherweise und ganz nebenbei auch ein kleines, erhellendes Licht auf die Frage werfen, warum Menschen sich von Anbeginn ihrer Zeit an mit einem so unnützen Ding wie der Kunst beschäftigt haben: weil Kunst nämlich einer der elementarsten Bausteine zwischenmenschlicher Berührung ist.

3 Was ist Empathie?

3.1 Empathie und das Problem des Fremdpsychischen

Beschäftigt man sich mit Empathie, stößt man sehr schnell auf eine der ungelösten Grundfragen der Philosophie: das Leib-Seele-Problem, grundgelegt von Descartes mit seiner strikten Trennung von Geist und Körper. Folgt man Descartes' Weichenstellung, sieht man sich umgehend mit unüberwindlichen epistemischen Gräben konfrontiert, nicht nur dem zwischen meinem Körper und meinem Bewusstseinsstrom, sondern auch der Tatsache, dass nur ich selbst Zugriff auf meinen Bewusstseinsstrom habe – und niemand sonst. Letzteres ist als Problem des Fremdpsychischen geläufig und statuiert, dass kein Mensch Zugang zu den psychischen Inhalten einer anderen Person hat.(7)

Natürlich widerspricht diese Auffassung unserer allgegenwärtigen Erfahrung, dass wir Menschen sehr wohl meinen, in etwa zu wissen, was unsere Mitmenschen denken, wünschen oder fühlen. Empathie nimmt diese Alltagserfahrung auf und versucht sie zu erklären. Die beiden lange Zeit geläufigsten Theorien hierfür sind Theory of Mind bzw. Theory Theory (kurz TT: mentale Zustände als Konstrukte/theoretische Terme, um aus der Dritte-Person-Perspektive Vorhersagen zu machen(8)) und Simulation Theory (kurz ST: ein Analogieschluss aus der Erste-Person-Perspektive auf die Bewusstseinsinhalte unseres Gegenübers, den wir als eine Art Romanfigur in uns selbst erschaffen(9)).(10)

Die Grundlage dieser beiden Theorien, TT und ST, ist, wie bereits erwähnt, die kartesische Trennung von Leib und Seele. Genau dies wird jedoch bereits seit Anfang des letzten Jahrhunderts von Vertretern der Phänomenologie in Frage gestellt(11), die den menschlichen Körper als lebendigen Leib sehen:

"Die Welt, in der ich lebe, ist nicht nur eine Welt physischer Körper, es gibt darin auch außer mir erlebende Subjekte, und ich weiß von diesem Erleben. [... Der empfindende] Leib, dem ein Ich zugehört, ein Ich, das empfindet, denkt, fühlt, will, dessen Leib nicht nur eingereiht ist in meine phänomenale Welt, sondern das sich selbst als Orientierungszentrum einer solchen phänomenalen Welt ist, ihr gegenübersteht und mit mir in Wechselverkehr tritt."(12)

Im Leib bilden Körper und Seele also eine Ausdruckseinheit. Folgt man diesem Gedanken, dann genügt, um Zugang zu den inneren Zuständen unseres Gegenübers zu finden, der Blick auf seinen Körper. Wir brauchen folglich weder theoretische Terme noch eine innere Simulation.(13)

Als Konsequenz hieraus hat sich die Interaction Theory (kurz IT) entwickelt. Was sie von TT und ST grundlegend unterscheidet, ist die Zweite-Person-Perspektive, die den kartesischen Graben zwischen Körper und Geist, Leib und Seele schließt und damit dem Problem des Fremdpsychischen seine epistemische Grundlage entzieht. Erste- und Dritte-Person-Perspektive werden in der IT nicht aufgelöst, sondern integriert: Geteiltes, gemeinsames Erleben aus der Erste-Person-Perspektive bleibt ebenso möglich wie beobachtende Distanz (Dritte-Person-Perspektive).(14)

3.2 Empathie als Diagnoseinstrument

Kohut beschreibt Empathie als "eine besonders auf komplexe psychische Konfigurationen eingestellte Wahrnehmungsweise"(15), die auf das Sammeln (nicht aber das Ordnen und Analysieren) psychischer Fakten ausgerichtet ist und als solche die einzig adäquate Annäherung an diesen Bereich darstellt.(16)

"Man kann mit vollem Recht sagen, daß einer der besonderen Beiträge der Psychoanalyse darin besteht, die intuitive Einfühlung von Künstlern und Dichtern in das Beobachtungsinstrument eines ausgebildeten wissenschaftlichen Forschers umgewandelt zu haben, obwohl Urteile erfahrener psychoanalytischer Praktiker dem Beobachter manchmal ebenso intuitiv erscheinen mögen wie etwa die Diagnosen eines Internisten."(17)

In Bezug auf psychische Fakten ergänzen und befruchten sich prärational-intuitive, empathische Einfühlung als Methode des Sammelns und rational-diskursiver analytischer Prozess im wissenschaftlichen Kontext nicht nur, das eine droht ohne das andere in faktenreiche Irrationalität einerseits bzw. steril-mechanistische Spitzfindigkeit andererseits zu kippen.(18)

Empathie ist für Kohut also vor allem ein Diagnoseinstrument bzw. der adäquate Zugang zur menschlichen Psyche. Was Empathie seiner Ansicht nach auf keinen Fall ist: ein heilendes Medikament, das per se Leid lindern kann.

"They will claim that empathy cures. They will claim, that one just has to be 'empathic’ with one's patients and they'll be doing fine. I don't believe that at all. [...] I would say that introspection and empathy should be looked at as an informer of appropriate action. [...] These purposes can be of kindness and these can be of utter hostility."(19)

3.3 Empathie und Moral

Empathie ist also die Fähigkeit, Einblick in die Psyche eines anderen Menschen zu nehmen. Sie eröffnet eine Art Verbindungskanal, über den ein Mensch Informationen über einen anderen Menschen sammelt, die er dann möglicherweise weiter verarbeitet und in Handlungen münden lässt. Welcher Art, Intention und Qualität die resultierenden Handlungen sind, darüber sagt die Empathiefähigkeit nichts aus.

Das widerspricht der weit verbreiteten Auffassung, dass empathische Menschen, Menschen, die sich in andere einfühlen können, ein Gewinn für unserer Zusammenleben sind. Die dahinter stehende Logik ist einfach: Wer würde freiwillig einem anderen Leid zufügen, wenn er nachvollziehen kann, wie schrecklich sich das anfühlt? Die Apathie westlicher Gesellschaften angesichts der zahllosen kriegerischen Auseinandersetzung in den Krisengebieten der Welt hat Barack Obama in diesem Sinne folgerichtig wiederholt als "Empathiedefizit" diagnostiziert.(20)

Doch Untersuchungen haben inzwischen gezeigt, dass diese Intuition zu kurz greift. Menschen mit gesteigerter Empathiefähigkeit springen vor allem jenen bei, die sie als ihnen selbst ähnlich empfinden: Statt Mitgefühl mit allen zu haben, zeigen sie v. a. Mitgefühl mit ihresgleichen (ingroup-favoritism). Zunehmende Empathiefähigkeit bringt Menschen also nicht automatisch dazu, sich moralisch korrekt zu verhalten, und genauso wenig erfordert moralisches Verhalten die Fähigkeit zu empathischer Einfühlung.(21)

Was moralisches, unparteiisches, pro-soziales Verhalten hingegen tatsächlich fördert, hat mit Empathie als Fähigkeit der Einfühlung nur indirekt zu tun: spirituelle Übungen wie beispielsweise buddhistische Mettā-Meditation(22), die unseren Blick und den Kreis der uns nächsten, geliebten Wesen weitet. Dass wir dabei auch selbst die positiven Effekte einer solchen Haltung zu spüren bekommen, wurde bereits empirisch belegt und lässt sich vielleicht damit erklären, dass die Praxis eines größeren Mitgefühls gegenüber allen Wesen ja auch uns selbst mit einschließt.(23)

3.4 Empathie als gemeinsame Verkörperung

Weiter oben haben wir uns mit der Interaktionstheorie beschäftigt, einem integrativen Gesamtkonzept, das den Menschen als Ausdruckseinheit begreift, dessen lebendiger Leib Körper und Seele umfasst. Darüber hinaus integriert die IT innerhalb der Zweite-Person-Perspektive Erste- und Dritte-Person-Perspektive und macht individuelles Erleben zugleich zu einem geteilten wie gemeinsamen Phänomen.

Was aber geschieht nun genau, wenn zwei Menschen einander physisch präsent sind und auf die vorgenannte Weise in Verbindung treten, als lebendige Leiber, die sich in der Zweite-Person-Perspektive begegnen und Teil von etwas Gemeinsamem, eines gemeinsamen Prozesses werden? Für diese Art von intercorporeality, wie Merleau-Ponty sie benennt, gibt es einander ergänzende Erklärweisen, beispielsweise den Enaktivismus(24) und das Konzept der wechselseitigen Verkörperung (mutual incorporation bzw. gemeinsamer extended body).(25)

3.4.1 Enaktivismus

Folgt man der Sichtweise des Enaktivismus, dann nehmen Organismen nicht einfach nur Informationen aus ihrer Umgebung auf, sondern sie interagieren mit dieser und ihre Lebenswelt ist das Produkt dieser Interaktion. In diesem Sinne kann man auch soziale Interaktion und in der Folge soziale Kognition als einen zirkulären Prozess zwischen zwei Agenten sehen, der aus mannigfaltigen Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen besteht: Angleichung von Körperhaltungen, Gesichtsausdrücken, Gesten, Sprechrhythmik und -geschwindigkeit, gemeinsamer Fokus auf ein Objekt etc.(26)

Normalerweise vollzieht sich dieser gemeinsame Prozess ohne die bewusste Steuerung durch einen der beiden Akteure – weil dieser ja selbst Teil des dynamischen Prozesses ist. Allerdings entwickelt jeder der Akteure im Rahmen der gemeinsamen Interaktion zunehmendes Geschick darin, innerhalb des gemeinsamen Prozesses zu funktionieren, eine Fähigkeit, die Entwicklungspsychologen als implizites Beziehungswissen bezeichnen.(27)

3.4.2 Wechselseitige Verkörperung

Der zirkuläre Prozess von Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen verschaltet, wie wir gesehen haben, die beiden Akteure miteinander. Dies geschieht aber nicht durch Koordination ihrer Gehirnzustände, sondern in Form eines gemeinsamen, dyadischen Körperzustandes zweier aufeinander reagierender, verkörperter Subjekte. Inhalte, wie beispielsweise der emotionale Zustand eines Akteurs, werden in diesem Sinne beiden Akteuren zugänglich: bei einem Akteur als direkte emotionale Erfahrung und beim anderen als direkte Erfahrung einer mehr oder minder intensiven Reaktion auf diese Emotion.(28)

Wenn wir nun noch einmal einen Schritt zurücktreten und uns in Erinnerung rufen, wie im Rahmen der Theorie des Enaktivismus Erkenntnis generiert wird, dann kommt dem Leib als ein mit seiner Umgebung interagierendes Agens in der Erkenntnisgenese eine entscheidende Rolle zu:

"According to the paradigm [embodied cognition paradigm in cognitive science; KUS], the body plays a constitutive role in cognition, that is, cognition depends directly on the body as a functional whole and not just the brain. [...W]hat is meant by 'body', for the enactive approach, is [...] the body as an adaptively autonomous and sense-making system."(29)

Die miteinander verschalteten Leiber – Fuchs nennt diesen Zustand "mutual incorporation"(30) – generieren also Erkenntnis, indem sie aufeinander re- und miteinander agieren:

"In every face-to-face encounter, our bodies are affected by the other’s expression, and we experience the kinetics and intensity of his emotions through our own bodily kinaesthesia and sensations. Our body schemas and bodily experiences expand and incorporate the perceived body of the other."(31)

Die wechselseitige Verkörperung zweier Akteure ist hierbei eine Art besonderer Fügung, der Sonderfall eines Phänomens, das in unserem Alltag allgegenwärtig ist. Wenn wir beispielsweise ein Instrument (Blindenstock, Klavier) geschickt handhaben oder uns von einem Hochseilartisten in den Bann ziehen lassen, dann verschmelzen wir gewissermaßen: im ersten Fall mit einem Gegenstand, im zweiten – allerdings auf einseitige Weise – mit einem anderen Menschen.(32)

Weder der Gegenstand noch der andere Mensch, mit dem wir so auf einseitige Weise gekoppelt sind, lassen sich – obschon zumindest der Hochseilartist möglicherweise unsere Reaktion wahrnehmen mag – von unserer Reaktion beeinflussen: Der Gegenstand bleibt unveränderter Gegenstand, der Hochseilartist turnt unbeeinflusst von unserer Reaktion weiter(33). Nur der andere Mensch, mit dem wir uns in dyadischer, wechselseitiger Verkörperung befinden, tritt in Resonanz mit uns: Was er in uns auslöst, wird in unserem Körper für ihn sichtbar, erlebbar und zum Auslöser für seine erneute Reaktion darauf:

"This creates a circular interplay of expressions and reactions that occurs in split seconds, constantly modifying each partner’s bodily state. The process becomes highly autonomous and is not directly controlled by either of the partners. They have become parts of a dynamic sensorimotor and interaffective system that connects their bodies by reciprocal movements and reactions. Each lived body reaches out, as it were, to be complemented by the other; both are coupled to form an extended body through interbodily resonance or intercorporeality [...]."(34)

Unsere Fähigkeit zu empathischer Wahrnehmung ist damit zweigliedrig: Sie besteht einerseits aus unserer Wahrnehmung unseres Gegenübers, andererseits aus unserem Gewahrsein gegenüber unserer eigenen Körperreaktion auf unser Gegenüber: "One feels the other in one’s own body"(35). Allerdings tritt die Wahrnehmung unserer eigenen Körperreaktion normalerweise hinter die Wahrnehmung unseres Gegenübers zurück, ähnlich wie das Selbstgefühl unseres Fingers hinter die Wahrnehmung der berührten Oberfläche zurücktritt, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Die berührte, wahrgenommene Oberfläche bleibt – anders als der Mensch, mit dem wir gewissermaßen dialogisch wechselseitig verkörpert sind – von unserer Berührung in ihrem Sosein unberührt.(36)

3.4.3 Implizites Beziehungswissen

Wie aber steht es nun um die Interaktionstheorie im Vergleich zu konkurrierenden Ansätzen wie ST und TT? Fuchs führt ein starkes Argument ins Feld, nämlich dass die Fähigkeit zu dyadischer, wechselseitiger Verkörperung (und nicht etwa die Fähigkeit zur Theoriebildung oder Simulation) eine urmenschliche ist, da bereits Säuglinge fähig sind, auf diese Weise mit ihren Bezugspersonen in Kontakt zu treten:(37)

"Six- to eight-week-olds already engage in proto-conversation with their mothers by smiling and vocalizing [...]. Both caregiver and infant exhibit a finely tuned coordination of movements, rhythmic synchrony, and mirroring of expressions, which has often been compared to a couple dancing."(38)

Es sind diese frühkindlichen Erfahrungen wechselseitiger Verkörperung, die den Säugling implizites Beziehungswissen und Interaktionsrepertoire für den Umgang mit anderen Menschen entwickeln lassen, das er sein ganzes weiteres Leben lang nutzen wird:

"This prereflective knowledge or skill of how to engage with others includes knowing how to share pleasure, elicit attention, avoid rejection, and re-establish contact. [...I]nfants acquire special interactive schemes [...] and corporeal micropractices[. ...] It may also be regarded as interbodily memory that shapes the actual relationship as a procedural field, encompassing and connecting both partners.(39)

Ganz offensichtlich ist die Fähigkeit zu dyadischer, wechselseitiger Verkörperung also tief in unserem Menschsein verankert. Sie allerdings nur rein instrumentell zu begreifen, als eine Methode, mit der ein Partner dank eines gemeinsamen Flusses von Körperausdrücken die emotionalen Zustände seines Gegenübers dechiffriert, würde zu kurz greifen. Im Kern geht es bei wechselseitiger Verkörperung tatsächlich um mehr: um gemeinsameVerkörperung und damit ein gemeinsames Feld der Erfahrung, an dem beide Partner partizipieren.(40)

3.5 Fazit

Was ist also nun die Rolle der Empathie? Nun, sehr grundlegend könnten wir feststellen, dass

"On the epistemological side, it might be suggested that the role of empathy is to provide us with knowledge of the environment or, alternatively, of what others are likely to do [...]."(41)

Empathie ist damit also zunächst einmal – und das ist wohl eine unstrittige Sichtweise – ein Diagnoseinstrument: Sie versorgt uns mit Informationen über unsere belebte Umgebung, über unsere Gegenüber, und gibt uns damit die Möglichkeit in der Welt bzw. innerhalb einer menschlichen Gruppe effektiver zu funktionieren. Damit stellt Empathie einen Überlebensvorteil dar, ohne allerdings per se pro-soziales Verhalten direkt zu befördern.

Betrachtet man nun die Interaktionstheorie und das Modell wechselseitiger Verkörperung, wird klar, dass Empathie möglicherweise keine informationelle Einbahnstraße ist: Ja, wir können durch sie Informationen über unsere Umgebung sammeln, die uns Überlebensvorteile bringen. Aber aufgrund unserer eigenen Struktur als enaktive Organismen wirken diese Informationen wiederum auf uns und unsere eigene Verfasstheit zurück: Sie lassen uns nicht unberührt, sondern, ganz im Gegenteil, sie berühren uns und verändern uns im Prozess der Berührung.

Vielleicht ist dieser letzte Punkt der beunruhigendste von allen: dass das Individuum viel offener, viel weniger abgeschlossen und autark ist, als wir das gemeinhin annehmen. Wir können problemlos Objekte in unser Körper-Sein integrieren (den Blindenstock, das Klavier etc.). Aber diese Offenheit unseres Systems funktioniert eben in beide Richtungen: Wir werden auch von unserer Umgebung berührt und verändern uns unter dieser Berührung beständig.

4 Ich und Du

Unsere Fähigkeit zur Empathie eröffnet also keine informationelle Einbahnstraße; Menschen sind vielmehr lebendige, enaktive Organismen, die in kontinuierlicher Wechselbeziehung mit ihrer Umwelt stehen.

4.1 Verschiedene Formen von Verkörperung

Im Rahmen der Interaktionstheorie kann man Empathie wohl am schlüssigsten als wechselseitige Verkörperung erfassen:

"Now, mutual incorporation implies a reciprocal interaction of two agents in which each body schema extends and embodies the other."(42)

Wechselseitige Verkörperung stellt dabei allerdings einen Sonderfall des Phänomens Verkörperung dar. Verkörperung – das Verschmelzen unseres lebendigen Leibes über seine physische Grenzen hinaus – ist uns als Alltagserfahrung vertraut (Gebrauch eines Instruments; Faszination mit der Darbietung eines Künstlers).(43) Aber nicht jede Verkörperung ist, wie wir weiter oben gesehen haben, gleichermaßen wechselseitig:


...mit einem unbelebten Objekt

...mit einem belebten Organismus

Einseitige Verkörperung...

Instrument (z. B. Blindenstock, Klavier):
Verkörperung als Erweiterung des eigenen, lebendigen Leibes

Künstler (z. B. Hochseilakrobat): Mitgehen, Miterleben fremder Bewusstseinsinhalte ohne Rückkopplung mit dem Gegenüber

Wechselseitige Verkörperung...

-
(Per Definition sind nur lebendige Organismen zu wechselseitiger Inkorporation fähig)

Anderer Mensch: vielfache Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen

Tab. 1: Formen von Verkörperung
Quelle: Eigene Darstellung

Wechselseitige Verkörperung ist also – wenn überhaupt – nur mit belebten Organismen möglich.

Und es gibt ganz offenbar unterschiedliche Grade bei Art und Intensität der jeweiligen Rückkopplung von belebten Organismen.

Der Standardfall, von dem Fuchs ausgeht, ist eine wechselseitige Verkörperung von gleichartigen Akteuren:

Abb. 1: Wechselseitige Verkörperung, Original Fuchs

In Fuchs' Beispiel erlebt A starke Emotionen, die sich auch in seinem Körper manifestieren und diesen gewissermaßen zum Resonanzboden seiner Gefühle werden lassen. B nimmt diese körperlichen Zeichen, den physischen Ausdruck von A's Emotionen, nicht nur wahr, sondern reagiert selbst physisch darauf. B nimmt also A's emotionalen Zustand nicht nur optisch an A's Körper wahr, sondern auch durch die Reaktion seines eigenen Körpers.(44)

Allerdings kann dieser Zyklus von Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen auch unterbrochen sein, beispielsweise wenn ein Zuschauer einen Hochseilartisten bei einem gefährlichen Kunststück(45) beobachtet:

Abb. 2: Wechselseitige Verkörperung, Bearbeitung

In diesem zweiten Fall erzeugt der Hochseilartist B durch sein Kunststück beim Zuschauer A Gefühle (beispielsweise Angst, Erregung und Anspannung), also eine Impression, auf die A körperlich reagiert. Die körperliche Reaktion von A auf diese Gefühle (beispielsweise die plötzliche Stille in der Zirkusarena, das gemeinsame Atemanhalten hunderter Zuschauer, eine fast greifbare Anspannung) nimmt B sehr wahrscheinlich wahr. Aber – und das unterscheidet diesen Fall vom vorangegangenen – B ist gleichzeitig fähig, seine eigene körperliche Reaktion auf ein Minimum zu beschränken und stattdessen sein Kunststück, seine eigene Expression, relativ unverfälscht fortzuführen. B wirkt somit auf A, ohne sich selbst aber von A's Reaktion beeinflussen zu lassen.

Dass A und B im Prozess wechselseitiger Verkörperung in eine Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplung eintreten und sich beide dabei gleichermaßen verändern, entspricht dem normalen Geschehen bei lebendigen Organismen. Dass B – der Hochseilartist aus dem zweiten Beispiel – jedoch fähig ist, die Distanz zu wahren, und, obschon A mit ihm in Resonanz tritt, selbst, entgegen seiner eigenen Natur als lebendiger Organismus, von A's Reaktion unberührt seine Expression unverändert fortführt, stellt gewissermaßen den Sonderfall des Sonderfalls dar.

4.2 Gesteuerte wechselseitige Verkörperung

Dieser Sonderfall des Sonderfalls – nennen wir ihn gesteuerte wechselseitige Verkörperung – zeichnet sich also dadurch aus, dass einer der Akteure fähig ist, sich dem Streben seiner eigenen Natur nach Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplung mit dem Gegenüber zu entziehen, die natürliche Reaktion seines eigenen lebendigen Leibes auf seine Umgebung also gewissermaßen zu kontrollieren.

Denn genau dieser Teil der natürlichen Tendenz zu wechselseitiger Verkörperung, der gleichmäßig zwischen beiden Akteuren mäandernde Fluss von Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen, ist ein Hindernis, wenn es darum geht, Empathie tatsächlich als präzises Diagnoseinstrument einzusetzen, so wie Kohut das vom ausgebildeten Psychoanalytiker verlangt:

"Der wissenschaftliche Psychologe im allgemeinen und der Psychoanalytiker im besonderen müssen nicht nur über die Einfühlung frei verfügen können; sie müssen auch in der Lage sein, die einfühlende Haltung wieder aufzugeben. Wenn sie nicht über die Einfühlung hinausgehen können, können sie keine Hypothesen und Theorien bilden und können somit letztlich nicht zu Erklärungen kommen."(46)

Doch wie entwickelt ein Psychoanalytiker – aber genauso ein Redner, ein Künstler, ein Artist – die Fähigkeit, die eigene Empathiefähigkeit souverän zu handhaben? Kohut schreibt:

"[...] ist es deshalb die besondere Aufgabe der Lehranalyse, die narzißtischen Positionen der Ausbildungskandidaten flexibler zu machen, um ihre Einfühlungsfähigkeit zu verbessern. Erfolg des Durcharbeitens wird in diesem Bereich dann erkennbar, wenn die Ich-Herrschaft offensichtlich hergestellt ist, das heißt, wenn der Kandidat die freie (autonome) Fähigkeit erworben hat, eine einfühlende Haltung einzunehmen oder auch aufzugeben, entsprechend seiner jeweiligen beruflichen Aufgabe."(47)

4.3 Ich-Herrschaft und Empathie

Wie aber hat man sich nun diese Ich-Herrschaft, die Flexibilität in den eigenen narzisstischen Positionen, vorzustellen, über die der Psychoanalytiker ebenso wie der Hochseilartist verfügen sollte?

Vielleicht ist das Kriterium, anhand dessen sich die verschiedenen Formen von wechselseitiger Verkörperung unterscheiden lassen, die emotionale Disposition der jeweiligen Beteiligten. Wir alle beginnen als Säuglinge, Erfahrungen mit wechselseitiger Verkörperung zu sammeln, und legen damit unserem impliziten Beziehungswissen und unserem Interaktionsrepertoire Grund.(48) Doch in was für einer Position befindet sich ein kindlicher Akteur, ein Säugling? Sein Überleben hängt existenziell vom wohlwollenden Dialog mit seiner Bezugsperson ab. Und je nachdem, wie glücklich die Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen verlaufen, werden seine Äußerungen entweder souveräner Ausdruck seines Selbst oder aber ein von Bedürftigkeit getriebenes Agieren, ein verzweifeltes Betteln um Erlösung sein.

Leider ist es nicht so, dass sich unser Interaktionsrepertoire mit dem Erwachsenwerden automatisch aktualisiert. Vielmehr setzen sich die im Kindesalter gelernten Muster bei vielen Erwachsenen weiter fort und führen, wie Halpern an einem drastischen Beispiel ausführt, manchmal zu tragischen Ergebnissen.(49)

"Engaged curiosity is especially important in emotionally distressing situations. Whether or not physicians try to empathize with their patients, they are in fact often deeply affected by the suffering and emotional difficulties they witness. [...] Physicians who are unaware of their own emotional state risk making poor decisions to alleviate their own distress. [...] As adults we are often unaware of how we reenact emotionally upsetting events. [...] Adults repeat their traumas just as children do, and in the intense setting of the hospital, it is not unusual for the whole treatment team to engage in the reenactment without being aware of it."(50)

Ich-Herrschaft kann in diesem Sinne folglich wohl nur bedeuten, unsere empathischen Fähigkeiten aktiv weiterzuentwickeln und uns Modi der gegenseitigen Verkörperung anzueignen, in denen wir unserem Gegenüber selbstbestimmt und auf Augenhöhe begegnen.

4.4 Fazit

Empathie ist keine informationelle Einbahnstraße. Die menschliche Fähigkeit zu dyadischer, wechselseitiger Verkörperung ist offenbar anthropologisch grundgelegt(51) und normalerweise ein Prozess, der auf beide Teilnehmer gleichermaßen wirkt. Allerdings ist es möglich, dass Akteure dieses Geschehen bewusst steuern und souverän handhaben, und zwar umso eher, je mehr sie Ich-Herrschaft entwickelt haben, d. h. vom existentiell abhängigen Teilnehmer des Prozesses zum selbstbestimmten Akteur gereift sind.

5 Berührung und Veränderung

Wie aber verhält es sich nun mit unserer Ausgangsfrage: Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk die Kraft entwickelt, einem Menschen in einer Situation tiefster Verzweiflung Hoffnung zu geben, so wie es James Rhodes(52) passierte? Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk einen Menschen berührt, tief bewegt, ja vielleicht sogar: heilt?

5.1 Menschen sind offene Systeme

Wie wir gesehen haben, befähigt uns Empathie dazu, zu fühlen, was andere fühlen – aber das Phänomen beschränkt sich nicht darauf. Wenn man Empathie im Sinne der Interaktionstheorie als die anthropologisch grundgelegte Fähigkeit zu gemeinsamer Verkörperung begreift, eröffnet sie einen in beide Richtungen offenen Kommunikationskanal, über den Menschen sich einander mitteilen, einander berühren und, ja, in dieser Berührung auch Veränderung(53) bewirken.

Damit dies auf förderliche, heilsame Weise geschehen kann, sollten idealerweise beide, wohl aber zumindest der den Prozess steuernde Akteur über Ich-Herrschaft verfügen:

"Physicians [oder wer auch immer den empathischen Prozess auf heilsame Weise beeinflussen möchte; KUS] need to cultivate curiosity about their own emotional reactions and about what they might be missing about the patient’s experience that, if better understood, might help them address the patient’s suffering."(54)

Denn was passiert, wenn beispielsweise Arzt und Patient aufeinandertreffen, ohne diese Vorarbeit geleistet zu haben? Rogers entwickelt eine aufschlussreiche Hypothese über den therapeutischen Prozess:

"Je mehr der Therapeut den Klienten als Mensch statt als Objekt wahrnimmt, desto mehr wird der Klient dazu kommen, sich selbst als Menschen, denn als Objekt zu sehen."(55)

Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wenn Menschen einander begegnen und in Wahrnehmungs-Handlungs-Rückkopplungen eintreten, ohne die entsprechende Vorarbeit geleistet zu haben, riskieren sie möglicherweise, einander als Objekte gegenüberzutreten.

5.2 Menschen sind keine Objekte

Ist das das Problem? Dass sich ein Mensch als Objekt wahrnimmt? Weil er es so erfahren hat, weil er so behandelt wurde, eben als: Objekt?

Menschen sind keine Objekte, sondern lebendige Organismen. Aber sie werden manchmal zu Objekten gemacht, indem man sie als solche behandelt:

"Wenn die Wissenschaft [...] Menschen in Objekte verwandelt, so hat dies noch eine andere Auswirkung. Wissenschaft führt in ihrer letzten Konsequenz zur Manipulation."(56)

Der Mensch ohne Ich-Herrschaft, der Arzt, der sich seiner eigenen emotionalen Zustände nicht gewahr ist, riskiert, seinen Patienten zum Objekt ebendieser emotionalen Zustände zu machen und den Patienten als Menschen darüber zu vergessen. Was er dann am Patienten vollzieht, ist, selbst wenn es in bester heilerischer Absicht geschieht, Manipulation.

Diese Problematik ist nicht auf das Arzt-Patienten-Verhältnis beschränkt, auch wenn dieses hier als exemplarisches Beispiel dient. Sie durchdringt vielmehr unser gesamtes Leben. Auch die Bezugsperson, die unfähig ist, sich dem Säugling auf eine wohlwollende, zugewandte Weise zu nähern, mit ihm in einen echten Dialog einzutreten und ihm den souveränen Ausdruck seines Selbst zu erlauben, macht ihn, das offene System Mensch, zu einem schließlich von Bedürftigkeit getriebenen, verzweifelt um Erlösung bettelnden Objekt.

5.3 Kunstwerke sind Objekte aus menschlicher Hand

Und ein Kunstwerk? Ein Kunstwerk ist gewiss ein Objekt... aber kein gewöhnliches, kein Alltagsobjekt wie ein Blindenstock oder ein Klavier.

Was passiert nun, wenn sich das offene System Mensch einem derartigen besonderen Objekt, einem Kunstwerk, gegenübersieht? Worin liegt der Unterschied? Wem genau oder was... begegnete James Rhodes da, als er zum ersten mal Bachs Charconne hörte?

Kunstwerke stammen per definitionem aus menschlicher Hand, in intensiver Arbeit haben sich in ihnen menschliche Erfahrungen verdichtet, manifestiert. In gewisser Weise begegnet man also in einem Kunstwerk auch immer einem Menschen: dem Menschen, der es schuf. Vielleicht nicht unbedingt einem lebendigen, reagierenden Menschen und sicherlich erlaubt die Begegnung mit einem Kunstwerk – ob seiner Unbelebtheit und Objekthaftigkeit – auch nur einseitige Verkörperung. Aber Kunstwerke sind dennoch etwas völlig anderes als die nützlichen Objekte, von denen Fuchs spricht, der Blindenstock oder das Klavier. Kunstwerke scheinen eine Art von Aura zu besitzen, auf subtile Weise zu atmen.

Oder ist es ein Mensch, ihr Erschaffer, der aus ihnen atmet? Vielleicht war es dieser andere Mensch, den James Rhodes durch die Chaconne atmen spürte:

"Als seine erste Frau, die große Liebe seines Lebens, stirbt, schreibt er [Johann Sebastian Bach; KUS] ein Musikstück[, ...] eine zu ihrem Andenken erbaute gottverdammte Kathedrale. Sie ist der Eiffelturm unter den Liebesliedern. [...] Stellen Sie sich absolut alles vor, was Sie einem Menschen, den Sie lieben, würden sagen wollen, wenn Sie wüssten, dass er sterben wird – selbst die Dinge, die Sie nicht in Worte fassen könnten. Stellen Sie sich vor, Sie würden all diese Worte, Gefühle, Emotionen zu den vier Saiten einer Violine destillieren und sie zu fünfzehn zum Zerreißen gespannten Minuten konzentrieren. Stellen Sie sich vor, es würde Ihnen irgendwie gelingen, das ganze Universum von Liebe und Trauer, in dem wir existieren, zu erbauen, es in eine musikalische Form zu bringen, es auf Papier niederzuschreiben und es der Welt zu schenken. Genau das hat er getan, tausendfach, und das allein genügt, um mich davon zu überzeugen, das es etwas Größeres und Besseres auf der Welt gibt als meine Dämonen."(57)

5.4 Fazit

Als Menschen ist es in uns grundgelegt, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, durch unsere Empathiefähigkeit die eigene Ich-Grenze zu überschreiten, mit anderen einen gemeinsamen extended body zu bilden und uns aus dieser Begegnung heraus weiterzuentwickeln.

Doch manchmal befinden wir uns in existentiellen Sackgassen, in denen uns dieser Weg, der Kontakt zu einem lebendigen Gegenüber, dem Du, versperrt ist. Vielleicht weil unsere eigene Situation zu schrecklich, zu un-mitteilbar ist, vielleicht weil es ein Mensch war, der uns verletzt hat, vielleicht aber auch nur, weil wir eines Menschen ermangeln, dem wir uns anvertrauen können oder wollen.

Was uns in solchen Fällen bleibt, ist unsere Empathiefähigkeit. Und, wenn wir Glück haben, die Begegnung mit einem Kunstwerk. Nicht-menschlich und doch menschlich zugleich, ein Objekt, aber ein menschengemachtes Objekt, das von menschlicher Erfahrung spricht. Schmerz, Trauer, Wut. Glaube, Hoffnung. Freude. Liebe.

"Als ich die Chaconne das erste Mal hörte ... Ich war gerade sieben Jahre alt. Diese Musik war so unendlich viel tiefer als alles, was ich bis dahin gehört hatte. [...] In ihr hatte alles Sinn, und in meinem Leben schien damals alles sinnlos. Also packte ich diese Musik und hielt sie fest, so fest ich nur irgend konnte. Sie war der Beweis, dass es Gutes in der Welt gibt. Die Welt konnte nicht nur böse sein, wenn diese Musik existierte."(58)

Vielleicht kann man es so definieren, was ein Kunstwerk ist: Ein Kunstwerk ist ein Objekt, das dem Menschen als Mensch gegenübertritt.

Damit dieser dann, vielleicht, irgendwann, nach dieser Begegnung, wieder zu den Menschen zurückkehren kann.

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